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01.12.2016 - Nahost-Experte über die aktuelle Situation und Lösungen des Bürgerkriegs Die Krise in Syrien verstehen

Dr. Kamal Sido, Nahost, Referent der sehr angesehenen Menschenrechtsorganisation Gesellschaft für bedrohte Völker aus Göttingen, sprach am 24. November in der Volkshochschule Lahr über den Syrienkrieg. Im Rahmen der Interkulturellen Tage haben der Interkulturelle Beirat der Stadt Lahr und die VHS den Experten eingeladen. Der Vortrag wurde gefördert aus Mitteln des Programms Flüchtlingshilfe durch Bürgerschaftliches Engagement und Zivilgesellschaft des Landes Baden-Württemberg.

Syrien ist eine Gesellschaft mit verschiedenen Volksgruppen und Religionen: Sunniten sind mit knapp zwei Drittel die größte Bevölkerungsgruppe. Alawiten, zu denen auch der autoritär regierende Präsident Assad zählt, stellen zwölf Prozent, Kurden und Christen jeweils zehn Prozent. Dazu kommen Drusen mit drei Prozent und Ismailiten mit einem Prozent. Dies ist eine Folge des ersten Weltkriegs, als das frühere osmanische Reich ohne Berücksichtigung der dort lebenden Völker aufgeteilt wurde. Die anderen ethnischen und religiösen Gruppen zu akzeptieren, gehörte auch vor dem Bürgerkrieg zu den Hauptforderungen der syrischen Gesellschaft. Mit dem andauernden Bürgerkrieg geht selbst das relativ friedliche Mit- und Nebeneinanderleben für immer verloren.

Dr. Kamal Sido beschreibt den IS als sunnitische Terrororganisation mit dem Ziel, ein islamisches Kalifat zu errichten, in dem die Scharia herrschen soll, ein islamisches Recht, das sich auf den Koran und seine Auslegung im Frühislam bezieht. Für den IS in Syrien kämpfen Dschihadisten aus 81 Ländern. Der IS hat die besten Waffen, finanziert wurde er durch Katar, Saudi Arabien, Vereinigte Arabische Emirate und die Türkei. Vor allem die Türkei hat mit dem IS ein gemeinsames Ziel: gegen Kurden, Jesiden, Christen und Alawiten zu kämpfen.

Als einen schmutzigen Krieg gegen die Bevölkerung bezeichnet der Referent das Handeln von Regierung und Opposition in Syrien. Die Folge: etwa acht Millionen Syrer sind auf der Flucht im eigenen Land. Während des schon fünf Jahre währenden Bürgerkriegs haben weitere Staaten in das Kriegshandeln eingegriffen: Russland unterstützt das Assad-Regime, um so seinen militärischen Stützpunkt im Mittelmeer zu halten. Der Zugriff auf Gas- und Energiequellen und Transportwege ist wichtig. Die Türkei verhält sich ambivalent: 1,9 Millionen syrische Flüchtlinge wurden aufgenommen. In Syrien selbst will die Türkei den Erfolg der syrischen Kurden verhindern, um eine Stärkung der Kurden im eigenen Land vorzubeugen. Die Grenze zu Syrien wurde abgeriegelt, der IS wird unterstützt, kurdische Gebiete von der Türkei aus bombardiert. Insgesamt ist der Alltag im kurdischen Norden Syriens relativ sicher, aber von wirtschaftlichen und humanitären Problemen der Zivilbevölkerung geprägt, so gibt es kaum Strom. Die Türkei verhindert Unterstützung aus dem türkischen Kurdistan. Für Dr. Kamal Sido ist eine Lösung des Konfliktes ohne die USA und Russland nicht möglich. Er fordert, dass sich die beiden Weltmächte verständigen müssen. Sonst würden die Volksgruppen in Syrien weiter gegeneinander aufgehetzt und den Mittelmächten Iran und Türkei würde sich mit einer starken Islamisierung durchsetzen.

An den Vortrag schloss sich eine lebhafte Diskussion an, auch mit Mitgliedern der aramäischen Gemeinde Lahr. Auf die Frage nach Lösungsansätzen sprach sich der Referent klar für einen Waffenstopp, einen Einreisestopp für Dschihadisten und für lokale Lösungen aus z.B. für die Kurdengebiete. Selbstverwaltung, Glaubensfreiheit und Gleichstellung der Sprache sei erforderlich. Die Föderation von Regionen im gemeinsamen Staat Syrien müsse das Ziel sein. Eine Lösung ohne Assad sei erst mal nicht denkbar. Von Deutschland erwartet Sido, mehr Druck auf die Türkei auszuüben. Europa dürfe nicht akzeptieren, dass die Türkei den Islamismus in Syrien unterstütze.

 

 

Zur Person:

Sido wuchs im kurdischen Teil Syriens auf. Nach der Schulzeit ging er 1980 nach Moskau, wo er Geschichte und Orientalistik studierte. 1989 beendete er seine Studien mit der Promotion am Orientalischen Institut der Akademie der Wissenschaften der UdSSR. Er lebt seit 1990 in Deutschland. Kamal Sido ist Autor mehrerer Veröffentlichungen in Kurdisch, Arabisch, Russisch, Deutsch und Türkisch. Bis 2006 lebte und arbeitete er in Marburg. Seit 2006 ist er Nahostreferent der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) in Göttingen. Er ist als Dolmetscher bzw. Übersetzer für Kurdisch, Arabisch und Russisch vereidigt. Kamal Sido ist in Deutschland bereits seit einigen Jahren in der FDP politisch engagiert und leitete 2003–2006 den Ausländerbeirat in Marburg.

(Quelle: Wikipedia)